Die Liedtexte, die Gustav Mahlers sinfonischem Liederzyklus Das Lied von der Erde zugrunde liegen, sind deutsche Nachdichtungen von chinesischen Gedichten aus der Tang-Zeit, die im 19. Jahrhundert ins Französische und Anfang des 20. Jahrhunderts weiter ins Deutsche übersetzt wurden. Aufgrund der mehrmaligen Übersetzungen haben sich die verwendeten Versionen der Gedichte so stark verändert, vor allem durch Anreicherungen mit westlichen Elementen, aber auch durch Fehlinterpretationen und Auslassungen, dass man sie als Chinoiserien betrachten muss.
Genese der Textfassung
Gustav Mahler verwendet für Das Lied von der Erde sieben Gedichte aus der Sammlung Die chinesische Flöte von Hans Bethge aus dem Jahre 1907, allerdings mit teilweise deutlichen Eingriffen in den Text.
Hans Bethge wiederum stützt seine Nachdichtungen (also weit mehr als nur Übersetzungen) auf folgende drei Werke.
- Chinesische Lyrik, vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart von Hans Heilmann, erschienen 1905. Dieses Buch enthält unter anderem Prosa-Übersetzungen aus dem Französischen, entnommen aus den nachfolgenden zwei Werken.
- Fünf der relevanten Gedichte stammen aus dem Buch Poésies de l’époque des Thang von Léon d’Hervey de Saint-Denys (veröffentlicht 1862).
- Die restlichen zwei Gedichte finden sich in der Sammlung Le Livre de Jade von Judith Gautier, wobei Heilmann die erweiterte Ausgabe von 1902 verwendete.
Der verschlungene Weg der Übersetzungen ist intensiv erforscht worden (siehe Literaturverzeichnis); ganz allgemein kann gesagt werden, dass es auf allen Bedeutungsebenen eklatante Unterschiede zwischen den Originalen und Mahlers Versionen gibt – „Was Mahler hier vertonte, hat textlich nur wenig, inhaltlich nur ansatzweise und sprachlich so gut wie gar nichts mit dem chinesischen Original zu tun.“
Transliteration, Satzzeichen, Rohübersetzung
Die Transliteration der chinesischen Schriftzeichen in den folgenden Abschnitten gibt die heutige hochchinesische Aussprache wieder und nicht die des tang-zeitlichen Mittelchinesischen, die bedeutend davon abweicht und am ehesten südchinesischen Dialekten wie Kantonesisch ähnelt.
In den historischen, chinesischen Originalquellen gibt es keine Satzzeichen; das Versschema allein gibt die (kaum vorhandene) grammatikalische Struktur vor. Allerdings ist es heute üblich, auch in chinesischen Ausgaben Satzzeichen zu verwenden, um die Lesbarkeit zu erhöhen.
Ein chinesisches Wort, das in der Regel durch ein oder seltener zwei Schriftzeichen dargestellt wird, kann oft gleichzeitig Substantiv, Verb oder Adjektiv sein, wobei es vom Kontext abhängt, wie es zu interpretieren ist – Chinesisch ist eine Subjekt-Verb-Objekt-Sprache ähnlich dem Deutschen, allerdings wird gerne das Subjekt ausgelassen (Pro-Drop). In der Rohübersetzung wird versucht, die korrekte Wortart bereits anzugeben, wobei die Reihenfolge der Zeichen genau eingehalten wird. Da es weiters im Chinesischen weder Deklination noch Konjugation gibt, wird für Verben der Infinitiv und für Substantive der Nominativ verwendet. Auf die Einfügung von im Deutschen notwendigen Partikeln wie Artikel oder (zusätzlichen) Präpositionen wurde verzichtet.
1. Satz: Das Trinklied vom Jammer der Erde
Grundlage des ersten Satzes ist Li Bais Gedicht Lied vom Kummer.
Li Bai
In der kaiserlichen Sammlung sämtlicher Gedichte der Tang-Dynastie (Quan Tangshi, 1705 kompiliert und rund 49000 Gedichte von mehr als 2200 Dichtern enthaltend) steht unmittelbar vor dem Lied vom Kummer Li Bais Lied vom Lachen, ein weiteres Trinklied, das ebenfalls einen wiederkehrenden Refrain besitzt und von Saint-Denys allerdings aufgrund von vielen historischen Anspielungen nur nacherzählend wiedergegeben ist. Die beiden Gedichte gehören zusammen und haben auch ungefähr die gleiche Aussage: „die Gesellschaft bietet keine Sicherheit, nur das Heute zählt, Trinken ist das Beste, was man tun kann.“
Rohübersetzung
Saint-Denys
Saint-Denys übersetzte nur die ersten beiden der vier Strophen, sodass auch in den Übertragungen von Heilmann und Bethge der zweite Teil fehlt. Durch die Weglassung der letzten beiden Strophen, die eine Erklärung für die vorherrschende traurige Grundstimmung geben, aufgrund von vielen historischen Anspielungen allerdings ohne ausführlichen Kommentar praktisch unübersetzbar sind, wird dem Lied der Charakter einer Klage genommen, und die Betonung verschiebt sich zu einem Trinklied.
Heilmann
In einer Fußnote erwähnt Saint-Denys, dass zwischen den Strophen sich der wiederkehrende Refrain Peï laï ho! Peï laï ho! (Der Kummer kommt! Der Kummer kommt!) befinde. Heilmann übernahm aufgrund dieser Angabe den Refrain im deutschen Text, allerdings ohne das chinesische Original zu konsultieren, wodurch er an falschen Stellen auftaucht.
Bethge
Aus Heilmanns Prosaübersetzung formt Bethge ein Gedicht in Blankversen.
Mahler
Die textlichen Unterschiede zur Version von Bethge sind fett hervorgehoben bzw. unterstrichen; nicht verwendeter Text wird durchgestrichen angezeigt.
2. Satz: Der Einsame im Herbst
Judith Gautier (1845–1917), die Tochter von Théophile Gautier, veröffentlichte 1867 unter dem Pseudonym Judith Walter das Buch Le Livre de Jade, das 71 Gedichte „übersetzt aus dem Chinesischen“ enthält, und zwar in Zusammenarbeit mit Tin-tun-ling (丁敦齡, Dīng Dūnlíng, 1830?–1886), einem politischen Flüchtling aus China, der bei Familie Gautier Unterschlupf fand. 1902 erschien eine erweiterte Ausgabe mit zusätzlichen 40 Gedichten, diesmal unter ihrem eigenen Namen.
Gautier hatte zwar Chinesischunterricht bei Tin-tung-ling, war sonst aber eine Amateurin, im Gegensatz zu Saint-Denys, der ein anerkannter Sinologe war. Sie übersetzte viele der Gedichte nicht wörtlich, sondern benutzte sie als Grundlage für ihre eigenen Chinoiserien, was lange Zeit verhinderte, ihre Quellen zu identifizieren.
Die Erstübersetzung von Qián Qǐs Gedicht im alten Stil: Lange Herbstmonate in eine westliche Sprache findet sich bei Saint-Denys, wurde aber von Gautier offenbar nicht konsultiert.
Qian Qi
Rohübersetzung
Gautier
Die Identifikation des ursprünglichen Gedichts wurde auch dadurch erschwert, dass Gautier einen falschen Namen als Autor angibt (Tchang-Tsi) – und zusätzlich in der Ausgabe von 1902 falsche chinesische Zeichen in der Gedichtsvignette einsetzt (李巍, Lǐ Wéi, einen Dichter mit diesem Namen gab es in der Tang-Zeit nicht).
Vom originalen Gedicht verwendet sie in ihrer Prosaversion nur die ersten vier Zeilen, diese aber dafür stark ausgeschmückt. Infolge fehlt der Rest des Gedichts auch bei Heilmann, Bethge und Mahler.
Heilmann
Die Übersetzung Heilmanns ist fast wörtlich, allerdings mit einem erweiterten Titel, den auch Bethge übernimmt.
Bethge
Für die Nachdichtung des zweiten Gedichts benützt Bethge wiederum Blankverse.
Mahler
3. Satz: Von der Jugend
Der Ursprung dieses Gedichts ist bis heute nicht genau geklärt. Seit Fusako Hamaos im Jahre 1995 erschienenen Artikel ist aber allgemein Konsens, dass es Bankett im Pavillon der Familie Tao von Li Bai ist.
Li Bai
Rohübersetzung
Eine komplette Übersetzung findet sich bei Weber.
Gautier
Gautier verwendet in ihrer Prosaübertragung den Titel des Gedichts für den ersten Vers, wobei sie mit großer Wahrscheinlichkeit nicht erkannte, dass das Zeichen 陶 im Kontext nur der Familienname „Táo“ sein kann und nicht die Bedeutung „Porzellan“ hat. Gleiches gilt für das darauffolgende Zeichen: 家 bedeutet hier „Familie“ und nicht „Haus“ – statt „Táo Familie Pavillon“ las sie daher irrtümlich „Porzellan Haus Pavillon“.
Ein Kommentar in einer Werkausgabe von Li Bai aus dem Jahre 1759 ist die Grundlage für die Verse 2 und 3; dieses Buch befand sich zur Zeit der Erstausgabe von Le Livre de Jade 1867 bereits in der Bibliothèque Impériale, der heutigen französischen Nationalbibliothek, die von Gautier zu Studienzwecken konsultiert wurde. Ohne dieses Hintergrundwissen wäre es völlig unerklärlich, warum Gautiers Version so stark vom chinesischen Original abweicht.
Der vierte Vers verwendet Zeile 3 des chinesischen Gedichts; der Rest bleibt unübersetzt. Die Technik, nur Teile von Gedichten zu übersetzen oder aus einem längeren Original mehrere französische Gedichte zu machen, zieht sich durch das gesamte Buch von Gautier.
Viele Ausschmückungen wie der „künstliche See“, die Farben grün und weiß sowie die Jadebrücke sind aber trotzdem Erfindungen von Gautier, möglicherweise entstanden durch Eindrücke von der Weltausstellung 1867 in Paris – für die chinesische Abteilung war übrigens Saint-Denys als Kommissar für das chinesische Reich zuständig –, auf der auch ein chinesischer Pavillon aus Porzellanplatten gezeigt wurde, angeblich ein Nachbau eines Bauwerks des im Jahre 1860 von englischen und französischen Truppen zerstörten Sommerpalasts in der Nähe von Peking.
Heilmann
Wieder eine fast wörtliche Übersetzung aus dem Französischen.
Bethge
Als Versmaß benutzt Bethge einen vierhebigen Trochäus.
Mahler
Im Lied von der Erde ändert Mahler den Titel und vertauscht die beiden letzten Strophen.
4. Satz: Von der Schönheit
Die Übertragungen von Li Bais Gedicht Lotospflücklied kommen inhaltlich dem Original recht nahe, obwohl auch hier in jedem Schritt von Li Bai zu Mahler die knappen chinesischen Verse immer mehr ausgemalt werden, vor allem auf emotionaler Ebene.
Li Bai
Rohübersetzung
Saint-Denys
Im chinesischen Original fehlt in der letzten Verszeile ein Subjekt, und es bleibt dem Leser überlassen, die beschriebenen Gefühle zuzuordnen. Saint-Denys legt sich dagegen mit seiner sehr ausgeschmückten Interpretation auf eine mögliche Version fest, nämlich dass ein Mädchen im Herzen bewegt ist. Während Weber meint, dass so eine Vorgehensweise statthaft sei, kritisiert Teng-Leong Chew es als krasse Fehlübersetzung. Seiner Meinung nach wäre es eindeutig, dass hier niemand verliebt sei, sondern bloß auf die zertrampelten Lotosblüten reagiert werde.
Heilmann
In Heilmanns sonst fast wörtlicher Übertragung aus dem Französischen wird interessanterweise die letzte Zeile des Gedichts durch die Ergänzung von „verräterisch die erkünstelte Fassung“ noch zusätzlich ausgeschmückt.
Bethge
Vergleichbar mit Gautier vermeidet Bethge in seiner Blankvers-Version chinesische Namen (hier den Namen des Flusses).
Mahler
Dieses Gedicht wurde von Mahler besonders intensiv verändert, wobei Weber anmerkt, dass in chinesischen Gedichten nur Menschen Gefühlseigenschaften zukommen und daher „mutige Pferde“, die „fröhlich wiehern“, rein westliche Redewendungen seien.
5. Satz: Der Trunkene im Frühling
Das Original ist wieder ein Gedicht von Li Bai: Gefühle beim Erwachen aus einem Rausch an einem Frühlingstag.
Li Bai
Rohübersetzung
Saint-Denys
Abgesehen von Ausschmückungen enthält die Übersetzung von Saint-Denys einen kleinen Fehler: Er personifiziert den antwortenden Vogel und lässt ihn direkt antworten, wohingegen im Original nur von einem im Frühlingswind zwitschernden Pirol die Rede ist.
Heilmann
Bethge
Die Nachdichtung von Bethge verwendet abwechselnd jambische Vier- und Dreiheber.
Mahler
6. Satz: Der Abschied
Folgende zwei Gedichte sind die Originalquellen für den 6. Satz: Meng Haoran, Übernachtung in Meister Yès Bergklause, umsonst auf Bruder Dīng wartend, und Wang Wei, Abschied.
Meng Haoran
Wang Wei
Rohübersetzungen
Mit „Bruder Dīng“ ist 丁鳳, Dīng Fèng gemeint, ein Bekannter von Meng.
In den meisten Zeilen des zweiten Gedichts fehlt das Subjekt; man muss sich das lyrische Ich denken. In der vorletzten Zeile ergibt von den zwei möglichen Lösungen „Bitte geh. Frag’ nicht weiter!“ und „Bitte geh. Ich frage nicht weiter!“ nur die letztere Sinn.
Saint-Denys
Heilmann
Die Verwendung von „San-Chan“ ist wahrscheinlich ein Druckfehler; bei Saint-Denys steht „Nan-Chan“. Die Interpretation als Nan-Shan- oder Zhongnan-Shan-Gebirgskette ist wohl nicht korrekt – die wörtliche Übersetzung von „nan shan“ ist einfach „südliche Berge/Hügel“ und somit die Ortsangabe von Meng Haorans Familiensitz in der Nähe von Xiangyang im heutigen Hubei.
Bethge
Im Buch Die chinesische Flöte sind die beiden Gedichte nebeneinander auf einer Doppelseite angeordnet. In den Anmerkungen wird erwähnt, dass Meng Haoran und Wang Wei Freunde seien, und dass die erwartete Person im ersten Gedicht Wang Wei sei. Die beiden Dichter waren tatsächlich befreundet, doch die zweite Behauptung ist falsch, wie man leicht am Originaltitel des Gedichts erkennen kann. Weiters behauptet Bethge in der gleichen Anmerkung, wie auch schon Saint-Denys zuvor, dass die sich zurückziehen wollende Person im zweiten Gedicht Meng Haoran sei, was aufgrund dessen Lebenslaufs wahrscheinlich zutreffend ist.
Beide Gedichte verwenden Blankverse.
Mahler
Im Lied von der Erde werden die beiden Gedichte zu einem Ganzen verschmolzen, nur getrennt durch ein ausgedehntes Orchester-Zwischenspiel. Die Eingriffe von Mahler in den Text sind schwerwiegend und verschieben die Bedeutung der Texte noch stärker in Richtung Weltschmerz, als es bereits in Bethges Nachdichtung vorgegeben ist.
Anmerkungen
Quellen
- 全唐詩, Quán Tángshī – „Sämtliche Tang-Gedichte“. Peking 1705 (chinesisch, Text auf Wikisource – Größte Sammlung von Tang-Gedichten, veröffentlicht unter dem Namen des Qing-Kaisers Kangxi).
- Léon d’Hervey de Saint-Denys: Poésies de l’époque des Thang (VIIe, VIIIe et IXe siècles de notre ère). Traduites du chinois pour la première fois, une étude sur l’art poétique en Chine et des notes explicatives par le Marquis d’Hervey-Saint-Denys. Amyot, Paris 1862 (französisch, Volltext in der Google-Buchsuche).
- Judith Gautier: Le Livre de Jade, poésies traduites du chinois. Nouvelle édition considérablement augmentée et ornée de vignettes et de gravures hors texte d’après les artistes chinois. Félix Juven, Paris 1902 (französisch, Digitalisat auf Gallica).
- Hans Heilmann: Chinesische Lyrik, vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart. In deutscher Übersetzung, mit Einleitung und Anmerkungen von Hans Heilmann. R. Piper, München/Leipzig 1905.
- Hans Bethge: Die chinesische Flöte. Nachdichtungen chinesischer Lyrik. YinYang Media, Kelkheim 2007, ISBN 3-9806799-5-0 (Wiederauflage der ersten Ausgabe von 1907).
Sekundärliteratur
- Daniel Joseph Bryant: The high T’ang poet Meng Hao-jan: studies in biography and textual history. University of British Columbia, Vancouver 1977 (englisch, Digitalisat, 25MB).
- Fusako Hamao: The Sources of the Texts in Mahler's Lied von der Erde. In: Nineteenth Century Music. Band 19. University of California Press, Oakland 1995, S. 83–95, doi:10.2307/746721, JSTOR:746721 (englisch).
- Henry-Louis de La Grange: A New Life Cut Short (1907–1911). In: Gustav Mahler. Band 4. Oxford University Press, Oxford 2008, ISBN 978-0-19-816387-9, Appendix 1Ba: Das Lied von der Erde (englisch).
- Kii-Ming Lo: Chinesische Dichtung als Text-Grundlage für Mahlers „Lied von der Erde“. In: Matthias Theodor Vogt (Hrsg.): Das Gustav-Mahler-Fest Hamburg 1989. Bericht über den internationalen Gustav-Mahler-Kongreß. Bärenreiter, Kassel 1991, ISBN 3-7618-1015-6, S. 509–528.
- Jürgen Weber: Chinesische Gedichte ohne Chinesisches in Gustav Mahlers „Lied von der Erde“. Eine wörtliche Übersetzung der Originale verglichen mit der Nachdichtung. (PDF; 0,4 MB) 2009; abgerufen am 1. November 2019.



